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L‘écritoire – Salon des guten Tons von A. Schnell

L‘écritoire ist Kammermusik und Schreiben im stillen Kämmerlein

Die Schönwalder Straße ist nicht die erste Straße, die sich für einen Kulturstandort anbietet. Vincent Haubtmann hat es dennoch in dieser Ecke des Weddings gewagt und 2018 das L‘écritoire eröffnet. Das Publikum mag seinen Salon wegen der regelmäßigen Kammermusikkonzerte in kleiner Runde. Er selbst liebt die Schreibwerkstatt. Der Salon ist ein Ort, der allen Wahrscheinlichkeiten trotzt und sogar die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie überlebt hat

incent Haubtmann steht mit beiden Beinen fest im Himmel. “Berlin ist eine verrückte Stadt”, lacht der Franzose. Und die Gründung seines Salons l‘écritoire ist sicher eine dieser verrückten Ideen, die Berlin in diesem Sinne einmalig macht. Gegen jede Vernunft hat Vincent Haubtmann 2018 in der Weddinger Schönwalder Straße 20 einen Laden gemietet, um einen Raum für eine Schreibwerkstatt zu haben. Dann kam die Musik hinzu und mit ihr das Publikum. „Ich hatte kein Konzept, keinen ausgeschriebenen Plan“, blickt Haubtmann zurück, alles habe sich entwickelt. Und entwickelt hat sich der Salon zu einem Ort der Kultur und der Kammermusik. Das ist so, auch wenn auf der Webseite weiterhin steht: Literarischer Salon und Café-Philo. Gerade hat Vincent Haubtmann eine Zusage für Gelder aus dem Unterstützungsprogramm Neustart Kultur erhalten. Nun kann er ab Ende August in sechs Monaten 25 Konzerte organisieren. Die Hilfe zum Neustart ist für ihn wichtig, denn die Corona-Pandemie hat seinen kleinen Salon hart getroffen. Doch davon später. Der Salon l‘écritoire ist zuallererst ein Raum im Sinne von ‚Zimmer‘. Etwa 50 Quadratmeter ist das groß, eingerichtet wie eine gute Stube mit Sessel, Couch und Kommode. Stuck an der Decke, abgeschliffene Holzdielen verbreiten Charme. Nur den schwarzen Flügel findet man nicht unbedingt in jedem Wohnzimmer. Vincent Haubtmann sagt: „L‘écritoire ist ein offener Raum“, und das bedeutet: eine Chance, eine Gelegenheit. Platz zur Entfaltung für Kultur, aber auch für die Persönlichkeit. Er habe den Salon eröffnet „mit dem Ziel: Ich möchte in Berlin bleiben“, sagt er. 30 Jahre hat er in Paris gelebt und gearbeitet. Er stammt aus dem Elsass, deshalb hat er einen deutsch klingenden Nachnamen. Der Raum, den er für sich und andere mit dem Salon erschaffen hat, soll kein abgehobenes Dachstübchen im Elfenbeinturm sein. „Ohne lokal zu sein, schaffst du es nicht“, sagt Vincent Haubtmann. Deshalb mag er nicht von Hochkultur sprechen, „nein, es ist ein Kiezprojekt“, so müsse man in Berlin denken. Nah an den Menschen bleiben, Gastgeber sein, gute Künstler präsen- tieren, anschließend mit ihnen am langen Holztisch zusammen essen. So hat er in den zurückliegenden Jahren seinen Salon zu einem Tipp gemacht. Wer schon einmal im l‘écritoire war, der empfiehlt es weiter. Klassische Werbung kann den Ort eben nur schwerlich erklären. Der Name des Salons, l‘écritoire, lässt sich übersetzen mit Schreibkasten. „Kleine Kiste mit Papier und Tintenfässern, Federn, Federwischer und Trockensand.“ So definiert Wikipedia den altmodischen Begriff. Vincent Haubtmann sagt: „Alles, was man zum Schreiben braucht“. Damit meint er neben Papier und Stift auch einen Raum mit Tisch und Stuhl und anderen Schreibern. Die Spontan-Schreibwerkstatt an jedem zweiten und vierten Samstag im Monat ist seine Herzensangelegenheit. „Café, Crois- sant und Mondlicht“ nennt er die Reihe. Doch so verrückt Berlin auch ist, der Bedarf an Orten des gemeinsamen Schreibens ist selbst in dieser Stadt begrenzt. Umso anrührender, dass l‘écritoire es geschafft hat, dieser kleinen Szene einen Raum zu geben. Wirtschaftlich waren die Corona-Beschränkungen für den kleinen Salon im Wedding ein Schlag in die Magengrube, der selbst mit dem größten Enthusiasmus nicht abzufedern war. Vincent Haubtmann erhielt Corona-Hilfen und musste zwischenzeitlich Hartz IV beantragen. „Schwierig war vor allem das Stop-and-Go“, sagt er rückblickend. Die Musiker waren schnell wieder zurück, sobald es erlaubt war. Aber das Publikum sei dem Wechsel von Öffnungen und Schließungen nicht immer so schnell gefolgt und im Zweifel weggeblieben. Zum Glück kam der Vermieter dem Salon finanziell entgegen. Nun startet der Betrieb aber wieder, hofft Vincent Haubtmann. Mindestens 15 und bis zu 30 Gäste erwartet er pro Abend bei seiner im August beginnenden Konzertreihe im l‘écritoire.

Andrei Schnel